"EIN ÜBERLEBENDER VON WARSCHAU"
op. 46 von Arnold Schönberg
(Kantate für Sprecher, Männerchor und Orchester)
von Hans Helmut Grebing

Arnold Schönberg schrieb seine Kantate "Ein Überlebender von Warschau" im August 1947 in Amerika. Nachdem der Komponist 1933 seine Stellung als Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Berliner Akademie der Künste verloren hatte und Deutschland verlassen mußte, lebte er, nach einer kurzen Zwischenzeit in Frankreich, im amerikanischen Exil. In Los Angeles baute er sich eine neue Existenz auf und arbeitete dort als Professor bis 1944.

Das vokale Schaffen Schönbergs von Beginn des Exils bis zu seinem Tod 1951 steht "im Zeichen des 1lekenntnisses, teils menschlich-politischer, teils religiöser Art" (H.H. Stuckenschmidt). Er schreibt 1938 für eine amerikanisch-jüdische Gemeinde sein "Kol Nidre", 1941 die gegen Diktatorenwahn gerichtete "Ode an Napoleon", 1944 das "Präludium zur biblischen Schöpfungsgeschichte".

Die Kantate "Ein Überlebender in Warschau" geht auf Berichte von Augenzeugen der Judenvernichtung in Polen zurück. Schönberg hat den Text aufgrund dieser Augenzeugenberichte selbst verfaßt. Er ist aus der Perspektive eines Menschen geschrieben, der bei der Räumung des Warschauer Ghettos von den Deutschen bewußtlos geschlagen
und anschließend für tot gehalten wird. "An das Meiste kann ich mich nicht mehr erinnern - ich muß lange bewußtlos gewesen sein."

Aber dann wacht dieser ohnmächtig ausgelieferte und geschundene Mensch aus seiner Bewußtlosigkeit auf und hört, wie die dem Tod in den Vernichtungslagern entgegengehenden Juden ihr altes Glaubensbekenntnis das "Schema Israel" an-stimmen. "Ich erinnere mich nur an den großen Moment, als alle wie auf Verabredung das alte, so lange Jahre vernachlässigte Gebet anstimmten - das vergessene Glaubensbekenntnis."

Fast scheint es so, als sei die Erinnerung an die entsetzlichen Vorgänge nur möglich in ihrer Verbindung mit diesem Gebet und der Kraft, die aus einem solchen uns nahezu unvorstellbaren Festhalten am eigenen Glauben erwächst. Schon der Text allein läßt spüren, welche Erschütterung diese Kantate bei den Zuhörern auszulösen vermag - Schönberg mischt genaue Beobachtungen mit Erinnerungsfetzen und halbbewußten Wahrnehmungen. Dieser Mischung entspricht auch die sprachliche Gestaltung. Der im Original englische Erzähltext ist durchsetzt mit den leicht dialektgefärbten deutschen Befehlssätzen des Feldwebels. Die Kantate schließt mit dem hebräisch gesungenen Schema Israel.

Auch zeigt der Text Schönbergs eine innere Entwicklung und Steigerung. Dieter Rexroth schreibt dazu im Programmheft zum 24./25. Sept. 1978 der Frankfurter Museums-Gesellschaft:

"Der Bericht ist in der Ich-Form geschrieben. Dieses Ich tritt dann in der zweiten Strophe zu einem Du in Beziehung. Dieses Du - das ist der Mensch in totaler Einsamkeit und Isolierung, in dem sich zugleich das Ich erfährt und wiedererkennt. Die Folge dieser Ich-Du-Beziehung ist dann im 4. Abschnitt das 'Wir', das schließlich o im solidarischen Gesang des Chores, im 'Schema Israel' aufgehoben wird. Die Verlorenheit des Menschen im brutalen Würgegrimm unmenschlicher Bestialität wird im gemeinschaftlichen Glaubensbekenntnis gebannt". (S.8)

Dieser Vielschichtigkeit des Textes entspricht auch die musikalische Gestaltung durch Arnold Schönberg. Schönberg komponiert in der sog. "Zwölftontechnik", d.h. er entwickelt seine Komposition aus einer Grundreihe von zwölf gleichberechtigten Tönen. Der Komponist kann diese 12 Töne sowohl linear als Reihe von aufeinanderfolgenden Tönen als auch in gleichzeitiger Anordnung zum Akkord verwenden.

Dieter Rexroth stellt in der dem "Überlebenden von Warschau" zugrundeliegenden Zwölftonreihe zwei Merkmale besonders heraus: den Halbton-schritt (fis-g), der in der Musikgeschichte als das "klassische" Seufzermotiv bekannt ist - und die Folge von großen Terzen (as-c-e). Besonders der immer wiederkehrende Halbtonschritt "steht ein für die allumfassende Erfahrung des Leids." (S.9) Die Komposition schließt mit dem Unisono-Gesang des "Schema Israel", in dem sich die ganze Zwölftonreihe als "melodisch ausgreifeinle, in sich fest gefügte Gestalt" entfaltet. Dabei_ wird der Männerchor von der Posaune begleitet.

Die melodische Gestalt des "Schema Israel" ist allerdings schon bruchstückhaft, wenn auch manchmal kaum wahrnehmbar, in der musikalischen Schilderung des Schreckens und des Entsetzens, inmitten der schrillen Dissonanzen und rhytmischen Impulse enthalten. Das ist besonders dort der Fall, wo wie im 1. Abschnitt vom vergessenen alten Glauben die Rede ist oder der Mensch sich seiner tiefsten Verzweiflung und Todesnähe bewußt ist. "Es ist, als ob sich der vergesse-ne Glaube gerade unter der niederschmetternden Gewalt der äußeren Ereignisse eine Bahn im Dunkel des Halbbewußten zu brechen sucht, um schließlich angesichts des Todes ins Licht des Bewußtseins und der Glaubensgewißheit zu treten. Die Erfahrung des Leids treibt die Gewißheit des Glaubens aus dem Vergessen hervor"(S.9).

Die Kantate "Ein Überlebender von Warschau" ist nach meiner Einschätzung schon beim ersten Hören auch für musikalisch nicht vorgebildete Gemeindeglieder unmittelbar verständlich. Wer - wie ich selbst - die Gesetze der "Zwölftontechnik" noch nicht kennt, wird die Komposition Schönbergs mit ihren schrillen Dissonanzen und rhythmischen Impulsen als die in die musikalische Sprache gebrachte Schilderung unvorstellbarer Grausamkeit begreifen lernen - ja, er wird sich ein Stück Musik über dieses Leid kaum noch anders vorstellen können.

Die Aufführungsdauer dieser Kantate von ca. 6 Minuten macht ihre Verwendung im Gottesdienst, in einer Passionsandacht oder an einem Gemeindeabend möglich. Dabei hat die Verwendung einer Aufnahme in der Originalsprache den Vorteil, die Brechungen und Überlagerungen des Textes und der Musik deutlicher zu machen. Zum besseren Verständnis der Kantate müßte aber den Hörern wohl eine deutsche Übersetzung des Textes bzw. eine ausführliche Einführung vorangestellt werden.

Die Kantate wird bei den Zuhörern eine große Betroffenheit auslösen. Sie reicht nach meinen Erfahrungen von tiefer Erschütterung bis zum Protest über die Zumutung, "So etwas" anhören zu müssen.

Ob Erschütterung oder Protest - der "Überlebende von Warschau" läßt niemand gleichgültig. Er zwingt zur Auseinandersetzung mit dem berichteten Geschehen. Damit gelingt Schönberg etwas, was mir beim Singen der gewohnten Passionslieder in der Gemeinde verlorengegangen scheint: das in der Musik geschilderte Leid als eine Herausforderung für uns heute zu verstehen und in,o unser Nachdenken und Handeln einzubeziehen. Für uns Christen wird es unausweichlich sein, bei der Betrachtung der Passion Jesu die Leidensgeschichte seines Volkes nicht weiterhin auszuklammern. Jesus steht mittendrin in der langen Reihe der Leidenszeugen Israels. Und so erkenne ich in der Schilderung des Schreckens von Warschau den Verzweiflungsschrei wieder, den auch Jesus mit den überlieferten Worten des Psalms 22 gebetet hat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Und das von den Todgeweihten gesungene "Schema Israel" wird für mich zur Fortsetzung des anderen Gebetswortes, das Lukas von dem am Kreuz sterbenden Jesus überliefert: "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände" (Psalm 31,6)

Text der Kantate
An das Meiste kann ich mich nicht mehr erinnern - ich muß lange bewußtlos gewesen sein. Ich erinnere mich nur an den großen Moment, als alle wie auf Verabredung das alte, so lange Jahre vernachläßigte Gebet anstimmten - das vergessene Glaubensbekenntnis.

Aber es ist mir unbegreiflich, wie ich unter die Erde geriet und in Warschaus Abflußkanälen so lange Zeit leben konnte.

Der Tag begann wie gewöhnlich. Wecken noch vor Morgengrauen. Heraus, ob ihr schliefet, oder ob Sorgen euch die ganze Nacht wachhielten: Ihr wurdet getrennt von euren Kindern, von eurer Frau, von euren Eltern, ihr wißt nicht, was mit ihnen geschah. Wie könntet ihr schlafen! Wieder die Fanfaren: "Heraus, der Feldwebel wird wütend!" Sie kamen, manche langsam, die Alten, die Kranken; manche mit nervöser Hast. Sie fürchten den Feldwebel. Sie rennen so gut sie können. Umsonst! Viel zuviel Lärm! Viel zuviel Bewegung und nicht schnell genug!

Der Feldwebel brüllt: "Achtung! Stilljestanden! Na wird's mal, oder soll ich mit dem Jewehrkolben nachhelfen! Na jut, wenn ihr's durchaus haben wollt!"

Der Feldwebel und seine Soldaten schlagen jeden: Jung und alt, stark oder krank, schuldig oder unschuldig - es war grauenvoll, das Klagen und Stöhnen zu hören.

Ich hörte es, obgleich ich sehr geschlagen worden war und nicht aufstehen konnte - so sehr, daß ich umfiel. Wir alle, die am Boden lagen und nicht aufstehen konnten, wurden nun über den Kopf geschlagen.

Ich war wohl besinnungslos. Als Nächstes hörte ich einen Soldaten sagen: "Die sind alle tot!" Und danach den Befehl, uns fortzuschaffen.

Ich lag abseits - halb bewußtlos. Es war sehr still geworden - Angst und Schmerz - dann hörte ich den Feldwebel:"Abzählen!"

Sie begannen langsam und unregelmäßig: eins, zwei, drei, vier. "Achtung", brüllte der Feldwebel wieder. "Rascher! Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wie-viele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!"

Und wieder begannen sie, erst langsam: Eins, zwei, drei, vier, dann immer schneller, so schnell, daß es schließlich wie das Stampfen wilder Rosse klang, und dann auf einmal
- ganz unvermittelt - beginnen sie das Schema Israel zu singen.

Quellenhinweise:
Programmheft der Frankfurter Museums-Gesellschaft e.V. Spielzeit 1978/79 zu den Konzerten vom 24./25. Sept.1978; hier: Dieter Rexroth, "In diesen wüsten Zeiten..."

Die deutsche Übersetzung des Kantatentextes stammt von Margaret Peter, erschienen in der Partitur: A Survivor from Warsaw, by Arnold Schoenberg op. 46 Revised Edition 1973, Boelle-Bomart, Inc. Hillsdyle, New York.

Schallplatte: CBS 765 77 Leitung: Pierre Boulez
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