DIALOGBIBELARBEIT ÜBER JESAJA 52/53
gehalten am 13. März 1980 in Kassel
Edna Brocke, Ulrich Schwemer

Ulrich Schwemer
Es gibt wohl kaum einen Text der hebräischen Bibel, der vom Christentum in dem Maße verein-nahmt wurde, wie es mit dem Gottesknechtlied Jesaja 52/53 geschehen ist. Schon in der Urgemeinde werden Teile dieses Gottesknechtliedes aufgenommen und auf Jesus hin gedeutet. In den Evangelien finden wir Zitate aus Jesaja 53, die dort Jesus selbst in den Mund gelegt werden. Damit sind die Weichen gestellt für eine christliche Exegese dieser Kapitel, die das christliche Verständnis des Gottesknechtes bis zum heutigen Tag prägen. Wenn am Karfreitag Jes. 52/53 gelesen wird, dann ist es für uns selbstverständlich, daß der Gottesknecht auf Jesus hin gedeutet wird. In Jesus werden die Verheißungen als erfüllt betrachtet. Tod und Auferstehung wer-den in diesem Text als Weissagung gefunden.

Allerdings besteht eine Spannung zwischen dieser Glaubensaussage und den Ergebnissen der wissenschaftlichen Theologie, die eine Fülle von Deutungen des Gottesknechtes anzubieten hat. Für Christen stellen sich im Angesicht dieses Textes vier Fragen. 1.) Wie haben wir die Gottesknechtlieder bei Deuterojesaja historisch einzuordnen? 2.) Welchen Stellenwert haben die neutestamentlichen Interpretationen dieses Liedes? 3.) Wie weit hat die überkommene Deutung dieser Texte christlichem Antijudaismus Vorschub geleistet? 4.) Folgt womöglich aus Überlegungen zu diesen Punkten die Notwendigkeit, heute die Gestalt des Gottesknechtes neu zu interpretieren?

Ich möchte Dich fragen, Edna, mit welchen Voraussetzungen Du an diesen Text aus der hebräischen Bibel gehst?

Edna Brocke
Ja, mit völlig anderen Voraussetzungen, denn seit er in dieser "eindeutigen" Auslegung im Christentum Fuß gefaßt hat, wurde dieser Jesajatext zwar in jüdischen Quellen wohl noch interpretiert (auch von berühmteren und bekannteren Exegeten und Rabbinen) nur hat er seinen Stellenwert in der Liturgie und in anderen Bereichen verloren. Er wird auch nicht mehr als Perikope im Gottesdienst gelesen.

Es gibt ein ganzes Buch, das nur Interpretationen zu dem 52. und 53. Kapitel des Jesaja aus den verschiedensten Jahrhunderten enthält. Teilweise sind diese Interpretationen apologetisch oder aber, was viel häufiger der Fall ist, gehen sie in einer Vielfalt von Interpretationen auf. Grundsätzlich kann man sagen: Weil dieser Text im Christentum so eindeutig und so aus-schließlich christologisch verstanden wurde, hat er im Judentum immer mehr an Bedeutung verloren.

Ulrich Schwemer
Ich bin überrascht, daß dieser Text, der bei uns eine solch hohe Bedeutung hat, im Judentum heute so gut wie keine Rolle mehr spielt. Ich frage mich deshalb, ob wir eigentlich recht mit diesem Text umgehen, ob wir ihn z.B. in seiner Deutung am Karfreitag sachgemäß auslegen. Vielleicht sollten wir zunächst einmal einen allgemeinen Überblick über die Gottesknechtlieder geben. Wir finden in dem Buch Deuterojesaja vier Gottesknechtlieder: Jes. 42, 1+4 (5-7); 49, 1-6; 50, 4-9; 52, 13 - 53,12.In dem ersten Lied wird der Gottesknecht in einer Rede Gottes vorgestellt. In dem nächsten Lied bezeichnet der Gottesknecht selbst seinen Auftrag und in den weiteren Liedern gibt er Hinweise darauf, daß dieser Auftrag mit Leiden verbunden sein wird. In dem letzten Gottesknechtlied wechselt Gottesrede und die Rede "der Vielen" ab, die ein Bekenntnis abgeben über diesen Gottesknecht. Das Problem, das bis zum heutigen Tage besteht, ist das Problem der Identifizierung. Die wissenschaftliche Theologie spricht hierbei von der Frage, wer denn der Ebed Jahwe sei.

Edna Brocke
Entschuldigung, daß ich Dich unterbreche, aber gut daß Du sagst, die "wissenschaftlichen Theo-logen", denn der Terminus, den du gerade eben genannt hast, ist schon ein Begriff, den wir nie in den Mund nehmen. Wir sprechen den Gottesnamen nicht aus. Das Tetragramm wird wohl geschrieben, wird aber von uns nicht ausgesprochen und wir sagen also immer Ewed Adonaj oder -ha Schem und Adonaj ist Umschreibung für das Tetragramm und heißt eigentlich "mein Herr". Der Gottesname wird nie ausgesprochen, schon allein deshalb, weil wir gar nicht wissen, wie er ausgesprochen wer-den sollte. In der hebräischen Bibel kommen ja nur die vier Buchstaben JHWJ vor ohne eine Vokalisation. Die Vokalisation wird viel später eingeführt und zwar nur in Anlehnung an das hebräische Wort Adonaj, so daß man irrigerweise Jehowah las. Und ich bin also dankbar, daß Du gesagt hast, die Theologen verwenden diesen Begriff.

Ulrich Schwemer
Vielleicht ist es ja sogar so, wenn es nun da-rum geht, daß Gottesknechtlieder ausgelegt wer-den sollen von jüdischen und christlichen Theo-logen, daß es dann vielleicht sogar sinnvoll wäre, christliche Theologen würden an dieser Stelle Rücksicht nehmen auf den jüdischen Sprach-gebrauch und nicht in vermeintlich wissenschaftlicher Genauigkeit nun unbedingt diesen Namen immer und ständig aussprechen. Ich will mich bemühen im weiteren Verlauf von Gottesknecht zu sprechen und nicht diese angeblich wissenschaftliche Formel zu benutzen.

Deuterojesaja selber oder ein späterer Bearbeiter hat wohl auf jeden Fall gemeint, daß mit dem Gottesknecht Israel selber bezeichnet sei. Denn in den Texten außerhalb der Gottesknechtlieder wird Israel eindeutig als der Knecht Gottes bezeichnet. Es gibt aber Spannungen zwischen dem Inhalt der Lieder und den Texten außerhalb der Lieder, da in den Liedern unter Umständen von einer einzelnen Person die Rede ist. Nur an einer Stelle innerhalb der Lieder finden wir eine Gleichstellung von Gottesknecht und Israel, nämlich in Jes. 49,3. Dort ist Israel als Gottesknecht bezeichnet. Allerdings wird diese Lesart nur in einer einzigen Handschrift über-liefert. Es liegt also die Vermutung nahe, daß "Israel" hier später eingefügt worden ist, um das Lied an den übrigen Text von Jesaja anzugleichen. Wir können also keine eindeutigen Aussagen darüber machen, wer der Gottesknecht in den Liedern sein soll. Mit Sicherheit wurden sie aber eingefügt in dem Interesse, Israel mit diesem Gottesknecht zu identifizieren. Dieses sollten wir im Auge behalten, wenn auch sicherlich weiterhin eine individualistische Auslegung, also die Auslegung des Gottesknechtes auf einen speziellen Menschen hin, weiterhin möglich er-scheint.

Bei uns jedenfalls läuft diese Diskussion weiter. Nach Deiner Einführung, Edna, wage ich schon kaum zu fragen, an welcher Stelle bei euch die Diskussion steht. Gibt es überhaupt noch Überlegungen dazu, wer denn nun mit diesem Gottesknecht gemeint ist?

Edna Brocke
Ja, diese Überlegungen gab es; heute gibt es sie allerdings sehr viel weniger. Natürlich gibt es auch jüdische Theologen (wobei dieser Begriff "Theologen" nicht ganz zutrifft) und Gelehrte an Universitäten in Israel und anders-wo, die sich natürlich auch wissenschaftlich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Doch ist im Judentum selten eine Schule oder eine wissenschaftliche Richtung allein prägend, denn die Forschung und das Vorantreiben von Erkenntnissen verläuft in ganz anderen Bahnen und erfährt andere Prozesse. Will ich nun versuchen, die verschiedenen Zugänge zu diesem Gottesknechtlied zu systematisieren, in eine bestimmte Ordnung einzuzwingen, so ist bereits das Verfahren selbst der jüdischen Tradition fremd, doch scheint es die beste Möglichkeit zu sein, um uns hier zu verständigen. Aus der Vielfalt der oben erwähnten Interpretationen soll hier nun eine Zusammenfassung versucht werden. Zunächst einmal wäre da der individuelle Zugang zu nennen, d.h. eine Interpretationsweise, die in dem Gottesknecht in diesem Text eine individuelle Person gesehen hat. Aber auch diese Interpretationsweise muß unter-teilt werden. Sehen wir uns die erste Untergruppe an.

a) Die erste Untergruppe innerhalb der individualistischen Auslegungsweise geht von einer historischen Perspektive aus, d.h. man identifiziert die Figur des Gottesknechtes in diesem Text mit einer individuellen Gestalt aus der Vergangenheit, mit einer realen Person, die irgendwann einmal in der Geschichte tatsächlich gelebt hat. So wird zuweilen dieses Kapitel und dieser Leidende Knecht mit Usija identifiziert, und sozusagen als "Beweis" dafür, daß mit Usija der König Usija gemeint ist wird seine Leprakrankheit an-geführt. Ein anderer Traditionsstrang liest den Text in Hinblick auf Hiskja, von dem ja auch in der Bibel berichtet wird, ''aß er sehr schwer krank war. Oder wieder andere gehen davon aus, daß der König Jojachin gemeint ist, der in Gefangenschaft geraten war. Diese genannten, realen Persönlichkeiten aus der Geschichte waren alle Könige . Wir werden in dieser Interpretationskategorie also im individuellen Zugang aus historischer Perspektive nur Könige finden. Und sie haben noch ein zweites Merkmal: Sie sind alle aus dem Hause David. Und das ist natürlich schon eine Aussage über messianische Vorstellungen. Es gab unter den verschiedensten messianischen Vorstellungen im Judentum eine sehr zentrale, nämlich die Vorstellung des Messias als König und zwar als König aus dem Haus David.

Eine Variante dieser Identifizierung des Knechtes mit einer realen Person aus der Geschichte ist es dann, den Gottesknecht nicht auf einen König, sondern auf einen Propheten zu beziehen. Die zwei bekanntesten und darum am häufigsten vorkommenden sind dabei Jeremja und Ezechiel.

Ulrich Schwemer
Ich finde Deine Aufzählung der individuellen Deutung des Gottesknechtes hochinteressant. Bisher habe ich immer geglaubt, das sei eine ausschließlich christliche Deutung. In der Tat unterscheidet sich das kaum von der christlichen Auslegung des individuellen Gottesknechtes.

Edna Brocke
Ja, gewiss. Nur vergessen wir nicht: dieses war die erste Untergruppe innerhalb des individuell-interpretierenden Schemas. Vom kollektiven Zu-gang haben wir ja noch nicht gesprochen. Des-halb stellt sich an dieser Stelle natürlich die Frage: welcher Strang von all diesen möglichen Auslegungen ist dann sozusagen der normative geworden? Also welcher Strang wurde zum bestimmenden der Liturgie, des Schulunterrichtes und der Theologie im weitesten Sinne? In wieweit ist von dieser Vielfalt der Interpretationen noch irgendetwas in die christliche Auslegung übergegangen? Das ist dann wirklich die zentrale Frage an Dich. Aber darf ich noch kurz die zwei anderen Untergruppen nennen. Ich bin immer noch im Bereich der Identifizierung des Knechtes mit einer einzelnen Person.

b) Die zweite Untergruppe geht nun von einer Figur aus, die in der Gegenwart lebt. Und da gibt es zwei Möglichkeiten: eine Variante ist die autobiografische, d.h. man legt den Text so aus, als wäre der Prophet selbst der Knecht; dabei ist es egal, ob man einen Deutero- oder einen Tritojesaja oder überhaupt irgendwelche anderen Jeshajas annimmt. Der Prophet, der dieses Lied geschrieben oder gesprochen hat, ist der leidende Knecht, er identifiziert sich mit der Aufgabe.

Die andere Variante der gegenwartsbezogenen Figur ist die biographische, d.h. man bezieht oder identifiziert den Knecht nicht mit dem Propheten Jeshaja selber, sondern mit irgend-einer zeitgenössischen Figur. (z.B. Cyrus oder Serubabel u.a.) Diese zweite Variante finden wir allerdings nur äußerst selten in der jüdischen Tradition. Viel eher die autobiographische.

c) Wir nannten also die Geschichtsbezogene und die Gegenwartsbezogene Interpretation. Die dritte Untergruppe nun ist von eschatologischen Zügen gekennzeichnet. Der Knecht wird mit einer Gestalt oder mit einer Figur identifiziert, die es weder in der Geschichte gab noch in der Gegenwart gibt, sondern die es irgendwann einmal, in der Zukunft, geben wird. Hier wird der Knecht ganz stark als Erlöser interpretiert. Die erste Stelle in der jüdischen Tradition, die diese eschatologische Interpretation als Erlöser auf-weist findet sich im Targum Jonathan zu Jes. 42,1 und zu Jes. 53,13. (Targum ist die Übersetzung der Bibel ins Aramäische, die im babylonischen Exil, wo aramäisch gesprochen wurde, entstand. Mit der Zeit wurde eine Sprachschwierigkeit immer deutlicher: die Juden waren des Hebräischen zwar noch mächtig, aber doch nicht in dem Maß, daß sie die Vorlesung des Thoraabschnitts während des Gottesdienstes wirklich verfolgen und verstehen konnten. Deshalb hat man die Thora, später dann die ganze Bibel ins Aramäische übersetzt. Und beim Gottesdienst wurde dann der jeweilige Abschnitt erst auf hebräisch und dann in der aramäischen Übersetzung vorgelesen. Diese Übersetzungen sind keine reinen Übersetzungen, sondern sind auch Interpretation.) Und diese Stelle hier im Targum Jonathan (das ist ein relativ früher Targum) ist der erste Nachweis dessen, daß man die Gestalt des Knechtes auch eschatologisch verstanden hat.

Ulrich Schwemer
Da ist es durchaus verständlich, daß diese Deutung dann auch auf Jesus bezogen wurde. Im Blick auf Deuterojesaja ist die Situation festzuhalten, in der von diesem Gottesknecht gesprochen wird. Es ist die Situation des babylonischen Exils; eine Situation des Leides; eine Situation der Verzweiflung. Das israelitische Volk fragt sich, ob die Verheißungen nicht mehr gelten. Es ist also die Frage, ob die Verheißungen des Exodus noch weiter Bestand haben. Es scheint so zu sein, als wollte Deuterojesaja an dieser Stelle mit dem Leidenden Gottesknecht seinem Volk klar machen, daß Leiden, selbst lebensbedrohendes Leiden noch nicht der Gegen-beweis gegen eine göttliche Führung ist.

Um dies zu verdeutlichen, wollen wir nun dem Inhalt von Jes. 52/53 nachgehen. Jesaja berichtet von einem ungeheuren Gegensatz, der sich an der Person des Knechtes festmacht. Der Text wird eingerahmt von der Zusage und Verheißung Gottes, daß dieser Knecht Erfolg haben wird. Aber diesen Erfolg wird er gegen allen Anschein haben. Er ist nämlich krank. Und diese Krankheit wird ihm ausgelegt als Gottesferne. Der Kranke wird als ein von Gott Verlassener angesehen.

Diese Krankheit wird sehr drastisch geschildert. Alle Menschen entsetzen sich vor ihm. Sie halten seine Wunden und seine Krankheit für ein Zeichen, daß er im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassen ist. Der Text lebt von seinem Gegensatz inhaltlich. Dem entspricht ein Gegensatz innerhalb der Zeiten, in denen gesprochen wird. Die Verheißungen werden in der Regel in der Zukunftsform ausgesprochen und die Schilderung des Leidens in der Form der Vergangenheit. Das Thema wird mit dem ersten Satz angegeben: "Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben und sich erheben aus seiner Erniedrigung". In diesem Thema klingt schon beides an. Der Kontrast der scheinbaren Gottverlassenheit und die Verheißung, daß er Erfolg haben wird. Die Zuschauer empfinden Ekel vor diesem Mann und dieser Ekel wird in dem nächsten Vers ausgedrückt: "Nicht mehr menschlich war sein Aussehen". Hier wird zum ersten Mal das Ekeln der Beschauer geschildert, die Menschen werden starr vor Entsetzen über diese Gestalt. Um so erschreckter reagieren die Menschen dann, wenn sie seine Verheißung vernehmen. Es ist eine Botschaft, die alle Grenzen überschreitet. Dieser leidende Gottesknecht wird zum Heil für alle Welt. Die Volker staunen und verschließen ihren Mund vor dieser Größe des Ereignisses.

Es gibt eine christliche Tradition und die nenne ich mit Schmerzen in Anwesenheit einer Jüdin, Diese Tradition legt den Vers, daß die Völker das Heil erhalten, in dem Sinne aus, daß die Juden dieses Heil dann nicht mehr haben, sondern daß es auf uns Christen übergegangen ist. Im Kapitel 53,1 wird dann die Stimmung angegeben, in der dieser ganze Text geschrieben wird. Es wird gefragt, wer glaubt denn nun eigentlich an diesen Gottesknecht? Hier wird schon angedeutet, daß in dem Leid und den Schmerzen des Gottesknechts nicht das Handeln Gottes erkannt worden ist, das der Welt das Heil bringt. Und dieser Kontrast wird nun im folgenden geschildert. In der Sprache der Klagepsalmen wird berichtet in Vers 2 + 3, daß der Knecht in seiner ganzen Erscheinung unscheinbar war und nur Verachtung auf sich zog. Es ist nicht die Rede von einer bestimmten Krankheit. Wir kennen auch im christlichen Bereich den Versuch, die Lepra des Königs Usija zur Deutung heranzuziehen. Im Text ist auf jeden Fall nicht die Rede von einer bestimmten Krankheit, es geht vielmehr um die Ganzheit des Verachtetseins. Das Leid isoliert den Knecht.

Edna Brocke
Ja und dann kommen die Verse 4 bis 6, die ja eigentlich einen Überraschungseffekt enthalten. Vers 4 beginnt: "Doch wahrlich unsere Krankheit hat er getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen". Die überraschende Deutung in den Versen 4 - 6 liegt darin, daß bisher die Leiden des Knechtes gewissermaßen als Strafe verstanden wurden und somit Grund für Verachtung waren, d.h. aus der Sicht der Zuschauer wurde der Knecht von Gott gestraft und von daher auch seine Krankheit erklärt. Nun auf einmal erkennen sie, daß das Leiden, gerade dieses Leiden, exemplarisch für sie selbst stattgefunden hat und daß dieses stellvertretende Leiden des Knechtes nicht nur keine Strafe ist, sondern für sie Heil bedeutet. Und verständlich wird dieser Gedanke in Zusammenhang mit der Vorstellung von Opfer. Das Opfer hat sühnenden Charakter und sühnende Wirkung. Das wird in Vers 6 sehr deutlich. die Zuschauer hatten nämlich den Knecht der Gottlosigkeit verdächtigt und mußten nun einsehen, daß gerade sie selbst die Gottlosen waren. Das Bild der "irrenden Schafe" zeigt die Gottlosigkeit an einer im Grunde völlig unerwarteten Stelle; umso deutlicher dann die Wirkung.

Ulrich Schwemer
In der christlichen Tradition bilden die Verse 7 - 9 den Mittelpunkt der Auslegung. Hier geht es um die vom Christentum her gesehen entscheidene Frage: Ist hier die Rede von einem tat-sächlichen Tod, ist hier die Rede von tatsächlicher Auferstehung? Ich hatte oben schon versucht zu zeigen, daß in diesem Gottesknechtlied in einer formelhaften Sprache gesprochen wird, nämlich in der formelhaften Sprache der Klagepsalmen. Mir scheint die Deutung näher zu liegen, daß auch an dieser Stelle formelhaft gesprochen wird. In einem Klagepsalm sagt der Klagende von sich selber,daß der Feind ihn in Finsternis lege, gleich ewig Toten (Ps. 143,3). Der Tod ist hier bildhaft gemeint. Daraus können wir schließen, daß auch hier nicht die Re-de davon ist, daß einer tatsächlich tot ist. Dann entfällt auch das Problem, daß Verheißungen für den tatsächlich schon Gestorbenen gesprochen werden. Vielmehr wird hier gesprochen von jemandem, als wäre er tot, als würde er mit Verbrechern beerdigt. Die Lebenssituation des Gottesknechtes wird mit der eines Gestorbenen verglichen. Und dann kann man sicherlich auch viel eher die Verheißungen, die ausgesprochen werden, verstehen. Es erübrigen sich dann zu-mindest alle waghalsigen Gedankengebäude, die dann aufgebaut werden müssen, wenn man davon spricht, daß der Knecht tatsächlich ums Leben gekommen ist. Vers 10 leitet dann die Wende ein. Hier wird mit dem doppelten Wortsinn des hebräischen Wortes chaphez gespielt, ein Wort-spiel, das im Deutschen leider nicht wiederzugeben ist. Ein Wort wird benutzt für den Rück-blick auf das Leiden und den Vorausblick auf die Verheißung der Nachkommenschaft.

Edna Brocke
Darf ich Dich kurz noch mal unterbrechen; Du sagtest das Wort "Nachkommenschaft", und wenn ich den Gedankengang richtig verstanden habe, wäre es sehr wichtig, hier einmal ganz kurz den kollektiven, "korporativen" Zugang zu verdeutlichen, wie er im Judentum vorherrscht. Und dann wäre es auch noch sinnvoll, etwas zu diesem Begriff "Nachkommenschaft" im Sinne historischer Lebendigkeit zu sagen. Vorhin sprach ich kurz von dem individuellen Zugang der Interpretation. Vorwiegend jedoch wurde dieses Gotteskrechtlied als eine Bezeichnung, eine Schilderung, ein Lied eines Kollektivs verstanden und zwar natürlich das Israels. Bei dieser Deutung verstand man dann all die persönlichen Elemente, die in diesem Lied vorkommen, als bloße Allegorien, die dieses Lied dem Ohr etwas gefälliger machen sollen. Gemeint ist also das Volk Israel, wobei natürlich sofort verschiedene Fragen aufkommen. Wenn man das gesamte, ganze Volk Israel meint, gerät man in einen Konflikt mit dem Text, denn das reale, konkrete Israel ist ja sündhaft, während der Knecht hier in unserem Text von Sünden frei ist. Aus diesem Grund wurde bei der Auslegung eine gewisse Einschränkung gemacht, indem nicht von dem realen Israel (wie es heute sichtbar ist) gesprochen wird, sondern von einem idealen Israel, das es in der Zukunft geben muß. Eine Variante dieser Einschränkung ist jene, die sagt, es handele sich bei dem Kollektiv nicht um tanz Israel, sondern um eine Elite in Israel. Und unter dem Begriff Elite sind verschiedene Dinge denkbar, die auch in der Tradition vorkommen. Von den Propheten über die Priester bis hin zu den Gerechten in Israel, reichen die verschiedenen Möglichkeiten. Die zwei wichtigsten Gegenüberstellungen wären erstens ganz Israel, das ganze Volk, real oder ideal; und zweitens: eine Elite aus Israel.

Diese Vorstellung vom Volk, ungeachtet welcher der beiden Varianten, die man zur Auslegung des Textes wählen würde, weist im Zusammenhang mit dem Begriff "Nachkommenschaft" ein ganz anderes Geschichtsbewußtsein auf. Für dieses Geschichtsbewußtsein, das bis heute prägend ist, will ich nur ein kleines Beispiel aus der häuslichen Liturgie geben. Am Pessachabend wird im Familienverband der Sedei-Pessach gefeiert. Um den festlich gedeckten Tisch sitzt die Familie (und die Gäste, die man meist dazu lädt) und der Familienvater, ja alle, lesen aus der Haggadah von Pessach, einem kleinen Büchlein, das vom Auszug aus Ägypten berichtet und sehr alte Erzähltraditionen einschließt. Ein Kernsatz in der Haggadah lautet: "In jeder Generation muß jeder sich so ansehen, als sei er selbst aus Ägypten befreit worden". Es ist also nicht nur ein Erzählen und Tradieren vergangener Geschehnisse, sondern ein Hineinholen der Geschichte in die Gegenwart in lebendiger Weise. Dieses Geschichtsbewußtsein ist gemeint.

Ulrich Schwemer
In V 11 und 12 finden wir dann die Konsequenzen Stellvertretenden Leidens: Der Knecht wird die Menschen gerecht machen. Und dafür erhält er einen Lohn. Unsicher ist die Übersetzung in V 12, ob es heißt: Er erhält Lohn, dafür daß er sein Leben hingab, oder: anstatt daß er sein Leben hingab.

Wie auch immer die Entscheidung hier ausfällt sollte man in der Auslegung davon ausgehen, daß zumindest im Verständnis des Jesaja, der Gottesknecht nicht einen tatsächlichen Tod er-litten hat, sondern sein Leiden eine Tiefe er-reichte, als wäre er gestorben. Da die Rede von der Auferstehung in diesem Kapitel mehr als fragwürdig ist, scheint auch die Rede von seinem Sterben fragwürdig zu werden. Weil man dann nicht mehr von Verheißung sprechen kann, es sei denn, man nimmt die kollektive Deutung, so wie Du es eben versucht hast zu zeigen, wo eben dann als Nachkommenschaft jeder im Volk Israel bezeichnet werden kann, und so diese Verheißungen für sich bestehen kann.

Edna Brocke
Aber gerade diese Deutung hat ja im Christentum, so weit ich sehe, kaum Fuß gefaßt, sondern man geht doch meistens an den Text sofort christologisch, individuell heran.

Ulrich Schwemer
Ja, an dieser Stelle stoßen wir genau auf eine Doppelgleisigkeit innerhalb unserer Theologie: Auf der einen Seite können wir wunderbar über sämtliche Theorien sprechen, wer mit diesem Gottesknecht gemeint gewesen sein könnte, aber am Ende ist aus unserer Sicht immer Jesus gemeint. Schon in der frühen Christenheit finden wir Deutungen des Leidens und Sterbens Jesu unter Beziehung auf die Gottesknechtlieder. In den püulinischen Briefen findet sich altes Formelgut, das schwerpunktmäßig aus den Knechtliedern das Leiden Jesu als ein Leiden für unsere Sünde interpretiert. (1. Kor 15,3-5; 11, 23-25 (Abendmahlsworte); Röm 4,25. In Phil 2,6-11 (Christushymnus) und 1.Petr 2,21-25 kommt stärker das Leiden Jesu zum Ausdruck und die folgende Erhöhung.

Jes. 53,1 wird von Paulus in Röm. 10,16 auf den Unglauben der Juden interpretiert. Es fällt auf, daß in diesen ältesten Zeugnissen der Deutung Jesu auf den Gottesknecht das stellvertretende Leiden Jesu hervorgehoben wird. Das "Für uns" kennt hier noch nicht die Frage "durch wen?". Jesaja 53 kommt in. Blick auf die Juden nur in den Blick mit dem Versuch der Erklärung, warum sie denn an Jesus nicht glauben. (53,1) Man hat den Eindruck, daß diese Formeln noch innerhalb des Judentums formuliert wurden und nicht als Abgrenzung vom Judentum gedacht waren. In den Evangelien wird häufig Bezug genommen auf Jes. 53. Es geht um die Deutung des Leidens als Lösegeld (Mk. 10,45). Ähnlich finden wir die Deutung in den Abendmahlsworten Mk. 14,24.

Interessant ist, daß im eigentlichen Rahmen der Passionsgeschichte die Beziehung zu Jesaja 52/53 nur von Lukas hergestellt wird: Jesus sagt in Gethsemane: Er ist unter die Übeltäter gezählt (Lk. 22,37). In der Apostelgeschichte finden wir die Deutung auf die Passion Apg. 8, 32f. Sicher sind viele dieser Stellen Gemeindebildung. Es ist aber wahrscheinlich, daß Jesus selber auch sein Leben von den jesajanischen Verheißungen her versuchte zu verstehen. Während diese Deutung durch Jesus sicher legitim ist, finden wir in den Evangelien bereits Ansätze der Deutung von Jes. 52/53, die das Leiden Jesu als ein Leiden unter den Juden und den Hohenpriestern deuten: Mk 8,31 parr.. In einer Verkehrung der Tatsache, daß Jesaja wohl das Volk Israel selbst als den leidenden Gottesknecht ansah, wird den Juden nun die Schuld am Tod Jesu angelastet. Und mit diesem ersten Wetterleuchten antijüdischer Auslegung des Gottesknechtes wird eine durch Jahrhunderte hin durchgehaltene Auslegungstradition eröffnet. Bevor die wissenschaftliche Theologie versuchte, historisch hinter das Geheimnis cies Gottesknechtes zu kommen, war eine christologische Auslegung der Texte selbstverständlich. Bereits die Kirchenväter bedienen sich ausführlich Jes. 53 zur Deutung des Heilswerkes Jesu. Auch Martin Luther sieht in Jes. 52/53 die Passionsgeschichte Jesu besser aufgezeichnet als in den Evangelien selbst. "Es ist wunderbar genug, daß Jesaja so viel Erleuchtung gehabt hat, daß er so beredt und zutreffend die Geheimnisse von Jesus malen konnte". In seiner Auslegung von dem Gottesknechtlied macht Luther als Gegner Jesu immer wieder die Juden und die Papisten aus. So legt Luther 52,15 so aus: "Die Juden wandten sich voll Ärger von Christus ab, so wurden sie aus Sehenden Blinde, Taube und Verstockte, obwohl sie ihn gegenwärtig unter sich saheu und hörten. So geht es den Juden auch heute noch, aber auf dieselbe Weise, wie sich viele Juden ärgern, wird er viele Völker besprengen" und "So ist klar ausgesprochen, daß Christus wegen des Ärgernisses seines Kreuzes mit seinem Reich von den Juden weggenommen und den Heiden gegeben wird, die nichts von den Verheißungen und von Christus gehört haben". Auch 53,1 legt Luther als den Unglauben der Juden aus. Zu 53,7 verkehrt Luther vollends den Sinn: " Der Herr warf unser aller Sünde auf ihn - so ist nun künftig Sünde, nicht an ihn zu glauben. Die Juden und alle Heuchler wollen durchs Gesetz gerecht sein". Wenn es schon unverständlich ist, daß ein christlicher Theologe solche Sätze sagen kann, um so mehr stellt sich die Frage, ob nach Auschwitz diese Auslegung sich verändert hat. Folgendes Zitat aus einem bayerischen Pfarrerblatt aus dem Ende der fünfziger Jahre zeugt allerdings noch von einer unbegreiflichen christlichen Unbelehrbarkeit: Es geht um die Differenzen jüdischen und christlichen Verständnisses der Botschaft vom Gottesknecht: "Und da erheben sich schwerwiegende, ja (so gewiß der neutestauentliche Jesus von Nazareth in Seiner Person das letzte Wort Gottes ist) nur durch eine bedingungs- und deutungslose Zuwendung Israels zu diesem Messias zu behebende Differenzen". Die Forderung, die hier ausgesprochen wird ist formuliert in der Sprache der Henker. Und sie zeigt in erschrecken-der Weise, wie sehr christliches Gedankengut zum Wegbereiter der Judenvernichtung wurde. Für uns erhebt sich die Frage, ob wix heute nach dem Holocaust noch genauso nur und ausschließlich den Gottesknecht erkennen dürfen. Nämlich in Jesus, oder ob wir akzeptieren müssen, daß wir Christen, die wir ja in unserer Tradition gern die Juden mit der Schuld am Leiden Jesu belasten, selber schuldig geworden sind am Knecht Gottes, der in den Konzentrationslagern umgebracht worden ist. Es ist also die Frage, ob wir Jesaja 52/53 nach Auschwitz anders auslegen müssen, ob wir vom Gottesknecht anders reden müssen. Aber bevor ich dazu was sage, wäre meine Frage, ob es ähnliche Überlegungen auch für Euch als Juden gibt, aus Jesaja 52/53 das Leiden von Auschwitz zu verstehen zu versuchen.

Edna Brocke
Ja und Nein. Von der Idee her schon, von dem Text selber nicht. Es gibt eine Reihe von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen (vor-wiegend in den USA), die sich um "Denkmodelle" bemühen, mit Hilfe derer man dem historischen Geschehen von und um Auschwitz näher kommen könnte. Unter diesen Wissenschaftlern gibt es Historiker, Psychologen, Theologen, Juristen und viele andere. Juden beteiligen sich intensiv an diesem Gespräch. Man hat sich dabei auch nach dem "Stellvertretenden Leiden" gefragt. Christlicherseits wurde dann jedoch bald (oft zu schnell), die Theodizeefrage gestellt, also die Frage nach dem Gerechten, der Leid erfährt; oder anders gesagt: "Wo war der barmherzige Gott, als sein Volk in Auschwitz, Maidanek und ungezählten anderen Orten umgebracht wurde?". Doch scheint die Frage falsch gestellt. Das Leid eines Menschen oder das Leid von Millionen - darin kann kein qualitativer Unterschied liegen. Der wesentliche und gewaltige Unter-schied ist der moralische. Darum stellt sich für Juden nicht die Theodizeefrage an erster Stelle, sondern die Frage nach dem exemplarischen Leiden. Die Frage lautet jüdischerseits darum: "Können Juden nach Auschwitz, nach dem Holocaust, noch immer Zeugen Gottes sein?". Hat Auschwitz - im Sinne dieses Gottesknechtliedes - einen Charakter von exemplarischem Leiden? Ist in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Leiden exemplarisch vorgelebt und "vorgestorben" worden? Und muß man nicht anstatt vom "stellvertretenden Leiden" in Wirklichkeit vom "exemplarischen Leiden" sprechen?

Darf man das nicht verstehbare Ereignis von Auschwitz dennoch in einen Zusammenhang mit der Frage nach der sühnenden Kraft des Opfers bringen? Kein Abwälzen von Schuld und Leiden, sondern ein In-Relation-Stellen: "Können Juden nach dem Holocaust noch immer Zeugen Gottes sein?".

Ulrich Schwemer
Es ist schwer, an dieser Stelle weiterzuführen, wenn Du sagst, daß die Christen die Frage nach der Theodizee falsch stellen. Ich habe nur persönlich den Eindruck, daß diese Frage, selbst wenn sie falsch gestellt wird, noch viel zu wenig gestellt wird. Ich habe bei Predigtmeditationen und Predigten zu Jesaja 52/53 durchgeschaut und bin eigentlicherschreckt, daß in den Predigten die nach 1945 gehalten worden sind und die mir zugänglich waren, Auschwitz nicht vorkommt, weder in den Meditationen noch in den Predigten selber. Man macht sich viele Gedanken in diesen Predigten über den Sinn stellvertretenden Leides. Die Antwort in diesen Predigten ist immer, daß Jesus als letztes Wort Gottes unsere Schuld auf sich geladen hat. So drastisch auch die Leiden des Gottesknechts geschildert werden, von der Schuld selber die uns vergeben sein soll, wird an dieser Stelle am Karfreitag so gut wie gar nicht gesprochen. Die Schuld bleibt irgendwie blaß und außerhalb des Horizontes der Prediger. Es scheint mir, daß dieser Tatbestand seine Ursache darin hat, daß Christen den leidenden Gottesknecht immer schon von der Seite der Sieger her sehen. Wir reden ja zwar noch von Schuld, aber an und für sich ist das schon was imaginäres, ist also schon nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Es ist uns ja schon vergeben. Man neigt eher dazu, statt Schuld zu bekennen, aufzuzeigen, wo ein Christ selber stellvertretend für einen anderen gelitten hat. In diesem Zusammenhang begegnet dann Auschwitz in der Person von Pater Maximiliam Kolbe, der sich für einen zum Tode verurteilten, willkürlich ausgewählten KZ-Insassen selber in einen Hungerbunker einsperren ließ. Sicherlich versteht sich diese Tat aus der Nach-folge Jesu. Aber wenn ich dieses Beispiel in der Predigt höre, dann kann ich nicht mehr anders als sagen, daß wir auch hiermit schon wieder auf der Seite der Sieger stehen; daß wir schon wieder vorzeigen, zu welchen Leistungen das Christentum fähig ist. Nicht gesagt wird, daß neben diesem einem Christen, der nun tatsächlich sein Leben hingegeben hat, tausende von Christen stehen, die nicht auf der Seite der Leidenden standen, sondern auf der Seite derer, die Leid zufügten. Und so gerät selbst dieses Beispiel zu einer christlichen Überheblichkeit. Wenn wir über Jes. 52/53 in unseren Kirchen predigen, so glaube ich, können wir ihn heute nicht mehr predigen, als hätten wir das Heil von vornherein auf unserer Seite. Ich glaube, wir müssen uns zuvor auf der Seite derer suchen, die anderen Leid zu-fügen. Wir müssen uns bei denen suchen, die das Leid der anderen für den Beweis der Gottes-ferne halten, und die anderen die Existenz als Gottesvolk absprechen. Dann können wir erkennen, daß wir nicht zuerst die Erlösten sind, die jubelnd das Heil verkünden können, sondern daß wir es sind, die die Nägel ins Kreuz geschlagen haben. Dann könnte es passieren, daß wir wie der römische Soldat unter dem Kreuz über Jesus über einen Leidenden sagen müssen, er ist wirklich Gottes Sohn gewesen. Und die Gestalt dieses Leidenden wird dann nicht gleichen dem Idealbild des Leidenden Jesus, der uns in der christlichen Auslegung immer weiter entrückt wird. Vielleicht trägt dann der am Kreuz Leidende als Lendenschurz den Gebetsmantel der Juden, wie Chagall es in verschiedenen Kreuzigungsbildern gezeigt hat. Und wenn ich dieses so sage, bedrückt mich die Sorge, daß ich schon wieder dem jüdischen Volk Unrecht tue, weil ich versuche, selbst dem Leid von Auschwitz noch eine Deutung zu geben. Dürfen wir diesem Leid überhaupt eine Deutung geben? Von dieser Frage hängt viel ab, letztlich auch die Frage ob wir überhaupt noch ein Recht haben, den leidenden Gottesknecht zu verkündigen. Daß es in diesem Leid von Auschwitz noch immer jüdische Fromme gab, die an ihrem Gott nicht verzweifelten, das allein macht mir Mut von diesen Glaubensbekenntnis-sen her neu von dem leidenden Gottesknecht zu sprechen. In diesem Glauben der Opfer sehe ich eine Stellvertretung, die allein mir die Möglichkeit eröffnet, glauben wieder zu wagen.

Edna Erocke
Ich möchte mit einer Stelle aus dem Talmud schließen, die uns die Vielfalt von Interpretation der Bibel einerseits und vom Tun und Handeln der Menschen andererseits aufzeigt, die besonders dann auffällig wird, wenn sich die Menschen um ihr Verhältnis zu Gott klar zu werden suchen:

"R. Elieser sagte: "Wenn das Gebot so ist, wie ich sage, dann möge es uns dieser Johannisbrotbaum beweisen"! Da rückte der Johannisbrotbaum hundert Ellen von seinem Ort weg; manche sagen: vierhundert. Sie aber erwiderten ihm: "Man bringt keinen Beweis mit einem Johannisbrotbaum". Hierauf sprach er: "Wenn das Gebot so ist, wie ich es sage, möge dieser Wasserarm es beweisen". Da begann der Wasser-arm stromaufwärts zu fließen. Sie aber erwiderten: "Man bringt keinen Beweis von einem Wasserarm". Hierauf sprach er: "Wenn das Gebot ist, so wie ich es sage, so mögen die Wände des Lehrhauses dies beweisen". Da neigten sich die Wände des Lehrhauses und drohten einzustürzen. Da schrie sie R. Jehoschua an und sagte: "Wenn die Gelehrten einander in der Gebotsauslegung bekämpfen, was geht euch das an?" Sie stürzten nicht weiter ein, wegen der Ehre R. Jehoschuas,richteten sich aber auch nicht wieder auf, wegen der Ehre R. Elieserm Sie stehen jetzt noch geneigt. Hierauf sprach er? "Wenn das Gebot so ist, wie ich es sage, möge sie dies aus dem Himmel beweisen". Da erscholl eine Hall-stimme und sprach: Was habt ihr gegen R. Elieser, das Gebot ist stets wie er es sagt. Da stand R. Jehoschua auf und sprach: "Sie ist nicht im Himmel" (Dtn 30,12). Was heißt: "Sie ist nicht im Himmel"? R. Jirmijahu erwiderte: Lie Tora ist bereits. vom Berg Sinai verliehen worden, wir achten nicht auf die Hallstimme, denn bereits in der Tora steht "nach der Mehrheit zu entscheiden" (Ex 23,2).

R. Natan traf Elijahum und fragte ihn, was der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde tat. Dieser erwiderte: Er schmunzelte und sprach: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt."
(Baba Meziah 59b).
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